Virtuelle Weihnacht

Vor mehreren Jahren habe ich im Rahmen eines VHS-Kurses eine Weihnachtsgeschichte schreiben müssen. Das hier war das Ergebnis.


„Das macht dann 37,76.“ Die Stimme der Kassiererin wurde durch eine Einkaufsradio-Version von „Jingle Bells“ untermalt.

Klaus kramte zwei Zwanziger aus dem Portemonnaie und gab sie der Kassiererin, „Bitte“.

„2 Euro 24 zurück, danke sehr und frohe Weihnachten!“

„Naja, haben wir ja bald, und dann ist es auch vorbei.“ Klaus packte den Rest des Einkaufs in die Tüte.

„Schade, nicht?“ Die Kassiererin hatte anscheinend genügend Zeit, sich mit ihm zu unterhalten. Der Supermarkt hatte noch eine halbe Stunde geöffnet und er war der einzige Kunde an der Kasse gewesen. „Ich werde mich gleich nur schnell umziehen, meinen Mann und die Kinder schnappen, dann geht es zu meinen Eltern.“

Wieso erzählte ihm diese Frau jetzt ihre Lebensgeschichte? Innerlich schüttelte er den Kopf. „Ja, dann viel Spaß“. Er nahm seine Tüten und verließ den Laden.

Als seine Wohnungstür ins Schloss fiel, atmete er auf. Endlich, eine Zone ohne Weihnachtsmusik und ohne stromfressende Stimmungsbögen und ähnlichem Schnickschnack. Statt weißer Weihnacht gab es hier weiße Wände, statt Kerzenschein, Halogenstrahler. Und irgendwann waren mal Gardinen an der Reihe, damit er das buntflackernde Elend da draußen nicht sehen musste. Das würde er im Zusammenhang mit Bildern oder neuen Möbeln machen – also so ungefähr in fünf bis zehn Jahren – genauer gesagt: nie.

Er ging ins Wohnzimmer und schaltete den Computer an. Das Fernsehen konnte man zu dieser Zeit sowieso vergessen, da kam nur ein Weihnachtsschinken nach dem anderen. Zum Glück gab es das Internet und den Chat. Da würden sich schon noch genug vernünftige Menschen aufhalten.

Das Chatprogramm war gestartet, er befand sich nun in der virtuellen 3D-Welt. Seine dortige Entsprechung, Avatar genannt, stand vor ihm auf dem Bildschirm – und stand ziemlich alleine da. „Hmm, im Club ist niemand? Wo sind die denn?“

Aber es gab schließlich mehr als einen Club. Er teleportierte zum nächsten und schaute sich um – niemand da. Als er auch am dritten Treffpunkt niemanden vorfand, schaute er in sein Inventar und wählte den nächsten Ort aus, den er fand. „Naja, ‚Dreams End‘, klingt ja ja interessant“, murmelte er.

Er landete auf einem großen Felsen, der sich hoch über die Landschaft erstreckte. Ein paar kleinere Bäume wehten im Wind, ein einsames Lagerfeuer brannte prasselnd in der Mitte einer Lichtung. Etwas zu prasselnd, er senkte die Lautstärke auf ein erträgliches Maß.

Ja, hier war es schön, hier konnte er bleiben. Er ging zur Klippe – und stellte fest, dass er nicht alleine war. Über ihrem Avatar stand der Name „Kassandra“.

Er tippte ein: „Hallo Kassi!“

Keine Reaktion.

Schade, war er doch der Einzige hier? Hatte Kassandra ihren Avatar stehenlassen und war zu einer Weihnachtsfeier gegangen?

Als er sein Inventar ein weiteres Mal aufrufen wollte, kam die Antwort: „Hallo Nerd, ich dachte schon, ich wäre alleine hier.“

Klaus, beziehungsweise „Nerd“, wie er sich in dieser Welt nannte, antwortete: „Ich hab bis eben dasselbe gedacht. Was machst du Schönes?“

„Siehst du doch, ich sitze hier.“

Er ließ seinen Avatar neben den ihren setzen und schaute sich Kassandra genauer an.

„dann setze ich mich mal neben Dich“. Sie hatte ihrem Avatar eine kaffeedunkle Bräune gegeben, von der sie viel zeigte – nur ein knapper, weißer Bikini verdeckte ihre gut proportionierte Blöße.

Er hatte sich nicht so viel Mühe gegeben. Er trug ein weißes T-Shirt und eine blaue Jeans – die Kleidung, die er auch im „Real Life“ trug – dem Teil des Lebens, wo die Pizza herkam, die seinem RL-Körper noch nicht viel geschadet hatte, er hatte nur einen sehr kleinen Bauchansatz und hoffte, dass er auch mit Vierzig nicht anwachsen würde.

„Ich hab schon gedacht, dass ich hier der Einzige wäre. Die anderen sind wohl alle im Real Life unterwegs.“

„Ja, wird wohl so sein.“

„So mit uralten Weihnachtsliedern, am Besten noch selbst gesungen. Zusammen mit genau der Verwandtschaft, der man die übrige Zeit des Jahres aus dem Weg gehen kann.“

„Hmm …“

„Na, bei Dir wird das doch ähnlich aussehen, sonst wärst Du nicht online, oder?“

Keine Antwort nach einer Minute. Vielleicht holte sie sich gerade etwas zu essen?

Keine Antwort nach zwei Minuten. War ihr Rechner abgestürzt?

Keine Antwort nach drei Minuten. Hatte er etwas Falsches gesagt?

„Bist Du noch da?“, fragte er vorsichtig.

„Ja“

„Hab ich einen wunden Punkt erwischt?“

„Hmm …“

„Ich dachte nur, weil Du zu Weihnachten vor dem Rechner sitzt und so.“

„Ist schon gut.“

„Ja? Wieso bist Du denn dann vor dem Rechner?“

„Lass uns über etwas anderes sprechen, okay?“

„Okay. Was machst Du heute noch so?“

„*lach* Feinfühligkeit ist nicht Deine Stärke, oder?“

Klaus runzelte die Stirn. „Wieso?“

„Mein Freund hat mich verlassen, gerade zu Weihnachten. Ich hatte hier alles schön vorbereitet, sein Lieblingsessen und so. Es sollte ein richtig schöner Abend werden. Aber weißt Du was? Wir machen jetzt eine virtuelle Weihnachtsparty! Ich schicke Dir gleich mal eine Adresse, damit wir dieselbe Musik hören können. Ich glaube, ich muss Dir nicht sagen, was Du genau damit tun musst, oder? Dein Nickname ist bestimmt Programm?“

„*lach* Ja, hast recht. Mal schauen, was Du so für Musik hörst, bin schon sehr gespannt!“

Wenige Sekunden danach erhielt er die Adresse, die er gleich ins Programm eintrug. Düsterer Rock erfüllte den Raum.

„Die Musik ist gut! Ich mag ‚Unheilig‘ absolut!“

„Dann mach schön laut, damit Du was davon hast!“

Er drehte den Regler seiner Lautsprecher fast auf Anschlag, sollten seine Nachbarn doch an den Wänden klopfen, das war ihm jetzt egal.

Er schaute wieder auf das Display, wo bereits eine Frage auf ihn wartete: „Du … wo wohnst Du eigentlich?“

„Hannover, wieso?“

„Zufälligerweise Südstadt?“

Gut geraten, dachte er sich. „Naja, ich gebe eigentlich nicht gerne zu viele Informationen über mich preis. Vielleicht kann ich ja bei Dir eine Ausnahme machen, mal überlegen.“

„Dann frage ich andersherum: Du wohnst in einem Haus mit mehreren Etagen?“

„Ja, wieso?“

„Genauer gesagt wohnst Du im zweiten Stock, richtig?“

Hatte er es mit einer Hellseherin zu tun? Nicht, dass er solchen Humbug glaubte, aber

langsam wurde es mysteriös. „Äh … gut geraten, woher weißt Du?“

„Sage ich Dir gleich, ich muss mal kurz weg.“

„Okay.“

Er nutzte die Pause, um sich ein Bier zu holen, schließlich gehörte ja zu jeder Party auch ein wenig Alkohol, oder? Leider war sein Kühlschrank anderer Meinung, die einzige Bierflasche, die er fand, war ein halbes Jahr über Verfallsdatum. Er rätselte über seine Trinkoptionen, als es an der Tür klingelte.

Besuch kam selten, noch dazu um diese Uhrzeit. Er öffnete und sah langes schwarzes Haar, das zwei scheue Mandelaugen, eine Stupsnase und einen zarten Mund umrahmte. Er war sich sicher, dass er sie schon einmal gesehen hatte – wusste nur nicht genau wo.

„Ja?“, fragte er verwirrt.

„Bist du Nerd?“

„Äh, ja, ich bin ein Nerd, wieso fra… Moment, Kassi?“

Sie nickte. „Magst du Schweinebraten mit Rotkohl und Knödeln? Ich hätte da eine Portion übrig …“

Vielleicht war Weihnachten doch nicht so übel …