Die Piraten erleben in 2011 ein Dejá Vu. Hatten wir 2010 die Debatte um LiquidFeedback, so ist es dieses Jahr anscheinend die Debatte um den Liquidizer.
Zur Info an alle Mitleser, die nicht so tief mit den Piraten verwachsen sind: LiquidFeedback ist ein Tool, um Initiativen gemeinsam zu erarbeiten und darüber abzustimmen, der Liquidizer ist ein Tool zur Priorisierung von Dingen. Beide folgen dabei Prinzipien von Liquid Democracy – einer Demokratie-Theorie, die eine Mischform bestehender Demokratie-Formen ist.
Worum drehte sich die Debatte 2010? Es gab dort mehr oder weniger zwei Gruppen. Die einen, die das Tool kritisierten und die anderen, die das Tool gegen Kritik verteidigten.
Die Kritiker kamen dabei aus verschiedenen Lagern. Es gibt Kritiker, die das Prinzip der Delegation von Stimmen nicht für gut befinden. Ihrer Ansicht nach verfälschen Delegationen das Ergebnis. Andere Kritiker bemängelten den Umgang mit Daten innerhalb von LiquidFeedback. Das System wird für (unverbindlichen) Meinungsbilder verwendet, die Meinungsbilder sind dabei offen. D.h. jeder kann schauen, wie der andere abgestimmt hat. Dies ist eines der Grundprinzipien von Liquid Democracy. Die dabei angefallenen Daten sollen dabei dauerhaft vorgehalten werden, ein Nutzer hat dabei keinerlei Löschanspruch. Man kann im System ferner den Benutzernamen ändern, jedoch kann auch hier jederzeit geschaut werden, welche Benutzernamen ein User schon verwendet hatte. Transparenz ist das oberste Gebot dieses Systems – der Datenschutz steckt dabei zurück.
Die heftige Debatte um LiquidFeedback hatte das Ergebnis, dass nun die Daten nach einer bestimmten Anzahl von Parteitagen, bzw. Jahren gelöscht werden sollen. Dem steht aber gegenüber, dass man – zu Kontrollzwecken – eine (leicht bereinigte) Kopie der Datenbank ziehen kann. D.h. das Löschen ist hier Makulatur. Zusätzlich wurde eine Möglichkeit des Benutzerwechsels außerhalb des Systems geschaffen. Dies ist allerdings ein manueller Vorgang, der viel Arbeitszeit erfordert.
Ein weiterer Kritikpunkt an LF bestand in der Benutzerführung, Außerdem fehlt ein integriertes Benachrichtigungssystem. D.h. jeder aktive Benutzer muss sich (täglich) anmelden um zu sehen, ob sich etwas getan hat, ob man über etwas abstimmen kann, ob eigene Anregungen umgesetzt wurden oder ob man seine Unterstützung für eine Initiative erneuern muss, weil der Ersteller sie geändert hat. Da ich die Gefahr dieser Situation sah (Informationen als Holschuld führt zu einer gewissen Ermüdung mit anschließenden Desinteresse), habe ich vielfältige Benachrichtigungssysteme geschaffen. Diese konnten allerdings nicht so feingraduiert sein wie ein integriertes System. Zumal die reine Existenz dieses Systems vielen lange Zeit auch nicht bekannt war, da nicht im System dafür geworben wurde.
Weitere Kritik am System bestand darin, dass man zwar seine Stimme delegieren kann, man aber ggf. nur schwer sehen konnte, wie mit der eigenen Stimme abgestimmt wurde. Da Stimmen auch weiterdelegiert werden können, reicht es eben nicht aus zu schauen, wie bei einer Initiative der Delegierte abgestimmt hat. Der kann seine Stimme auch weiterdelegiert haben. Dementsprechend ist es im momentanen Zustand nicht sinnvoll möglich zu prüfen, ob der Delegierte tatsächlich so abgestimmt hat, wie man es sich vorgestellt hat.
Ein letzter Kritikpunkt ist der Verfall von Delegationen. Es reicht, sich einmal anzumelden, seine Stimme global zu delegieren und sich wieder abzumelden – dauerhaft. Die eingerichtete Delegation gilt dabei für alle Zeiten (bzw. so lange, wie der Delegierende Mitglied ist). Es findet an dieser Stelle also augenscheinlich keinerlei Kontrolle der abgegebenen Stimme statt. Ein weiteres Problem ist das Anmelden von Interesse. Je mehr Leute Interesse an einem Themengebiet anmelden, desto mehr Stimmen muss man sammeln, bis eine Initiative angenommen wird. Das Problem sind hier die Nutzer, die sich angemeldet haben, Interesse angemeldet haben und nie wieder im System waren. Diese Nutzer bewirken mittlerweile – durch die sehr stark gesunkene Aktivität) eine teilweise Blockade des Systems.
Soweit der Exkurs zur Kritik an LF.
Dieses Jahr wurde nun der Liquidizer dazu bestimmt, die Antragsreihenfolge für den Bundesparteitag in Heidenheim festzulegen. Kaum wurde das System vorgestellt, hagelte es Kritik. Eines der größten Kritikpunkte ist dabei, dass die eigene Stimme um so weniger Gewicht, je mehr Dinge man unterstützt. Der Hintergrund ist, dass man möchte, dass der Benutzer sich auf bestimmte, ihm besonders wichtige Punkte konzentriert. Eine weitere Kritik wurde laut, weil die Daten des Liquidizers nach dem Parteitag gelöscht werden sollen, außerdem gibt es keinen Datenbankdump. Es gibt Kritiken zur Datenschutzerklärung und den Nutzungsbedingungen und zur Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse. Eine Kritik war außerdem, dass das Tool Taktieren ermöglicht, da die Abstimmergebnisse sofort sichtbar sind. D.h. es könnte ein “Ebay-Effekt” eintreten (d.h. dass in letzter Sekunde Ergebnisse geändert werden).
Letzteren Punkt kann ich nachvollziehen. Ich bin hier sehr gespannt, ob dieser Effekt eintritt und wie stark er sich auswirken könnte.
Nach meinem Empfinden kommen viele der Kritiker des Tools aus dem Lager der “LF-Verteidiger” und ich werde den Eindruck nicht los, dass sie das Tool als Anlass nehmen, um es den Leuten “heimzuzahlen”, die damals LF kritisiert haben.
Gehen wir mal die Punkte durch:
- Löschung der Daten: Die LF-Kritiker wollten damals die Löschung, die LF-Verteidiger stemmten sich dagegen. Heute kommt wiederum aus dem LF-Lager die selbe Kritik an den Liquidizer.
- Kein Datenbankdump: Auch hier wird etwas von den Liquidizer-Kritikern gefordert, was sie bei LF verteidigt haben.
- DSE und NB: Von den LF-Kritikern wurden die Inhalte der DSE und NB kritisiert, die LF-Verteidiger fanden sie rechtlich korrekt. Nun kommt wiederum rechtlich orientierte Kritik an DSE und NB aus dem Lager der Liquidizer-Kritiker.
- Verfolgen der “Liquid Democracy”-Ideologie: Laut einigen Kritikern verfolgt der Liquidizer nicht die reine Lehre von LD – im Gegensatz zu LF. Mit dem Verweis auf die LD-Theorie wurden auch 2010 viele Kritikpunkte abgebügelt.
Wie man also sieht, bleiben sich die Kritiker in diesen Punkten treu.
Die Abschwächung der eigenen Stimme ist eine etwas andere Kritik. Aber betrachten wir hier einmal, was genau dahintersteckt und wie man die Aufgabe des Liquidizers mit Lf nachbilden könnte. Wenn man mal ganz genau schaut, stellt man fest, dass der Liquidizer ja gar nicht dazu dient, viele Abstimmungen oder Meinungsbilder durchzuführen, sondern genau eine, nämlich die über die Antragsreihenfolge. Wie würde man es in LF lösen? In Hamburg haben wir für den diesjährigen Programmparteitag LF zur Priorisierung genutzt. Es wurde dazu ein Thema mit vielen Initiativen erstellt. Jede Initiative stellte dabei einen Programmpunkt dar. Bei der folgenden Abstimmung brachte man dann die Punkte in die gewünschte Reihenfolge. So konnte man mehrere Punkte mit höchster Zustimmung versehen, oder auch nur einen einzelnen und andere Punkte darunter sortieren – aber noch als Zustimmung. Man hätte auch nur einer Initiative zustimmen können und alle anderen ablehnen können. D.h. man konnte hier sein gesamtes Stimmgewicht auf eine Initiative konzentrieren oder auf viele verteilen. Und je nachdem, ob man die Verteilung auf der selben Stufe gemacht hat oder darüber oder darunter, konnte man gewichten.
Wer jetzt diese Vorgehensweise mit der des Liquidizers vergleicht, wird feststellen, dass sie sich gar nicht so stark unterscheidet. In dem Moment, in dem man vielen Initativen seine Zustimmung gibt, schwächt man sein eigenes Stimmgewicht. Um eine Initiative gezielt zu pushen, muss man genau einer zustimmen und alle anderen ablehnen. So gesehen läuft also die Kritik ins Leere. Wer jetzt übrigens meint, dass wir also doch LF zur Priorisierung hätten verwenden können, hat noch nie versucht, bei einer LF-Abstimmung über 100 Initiativen sinnvoll zu priorisieren – das wird schnell sehr umständlich und unübersichtlich.
Und noch etwas zu der Begrenzung des eigenen Stimmgewichts: Von den Kritikern wurde erwähnt, dass wir ja wie auf dem Parteitag in Chemnitz hätten vorgehen können. Dort wurde das Alex-Müller-Verfahren angewendet. D.h. man konnte auf einem Stimmzettel die ihm wichtigen Themenblöcke ankreuzen. Dann schauen wir doch mal an, was Alex Müller ausmacht:
Wie viele Anträge gekennzeichnet werden dürfen bzw. wie viele Stimmen jeder Teilnehmer verteilen darf, wird zuvor vom Tagungspräsidium festgelegt. Die Zahl der jedem Teilnehmer zur Verfügung stehenden Stimmen darf dabei nur ein Bruchteil der Zahl der Anträge betragen, weil das Verfahren sonst nicht funktioniert, wie jeder sich selbst am Beispiel der Durchführung des Verfahrens mit Stimmenzahl = Antragszahl leicht überlegen kann.
Jeder Teilnehmer darf pro Antrag nur eine Stimme abgeben, d.h. das Häufeln von Stimmen ist nicht erlaubt. Die Teilnehmer müssen nicht alle ihre Stimmen verteilen.
Um es noch zu betonen:
Die Zahl der jedem Teilnehmer zur Verfügung stehenden Stimmen darf dabei nur ein Bruchteil der Zahl der Anträge betragen
Spannend, oder? Da wird von den Kritikern angebracht, dass man mit dem Liquidizer nur ein Bruchteil der Anträge sinnvoll unterstützen kann – weil ansonsten das Stimmgewicht zu weit sinkt – aber das von den selben Kritikern bevorzugte System geht genauso vor.
Wem kommt hier auch der Verdacht, dass der Liquidizer nur als Sündenbock herhalten muss, um sich an den damaligen Kritikern zu rächen? Dieser Verdacht wird auch von vereinzelten Äußerungen einiger Leute während der Debatte genährt.
Ich möchte hier nicht unterschlagen, dass einige LF-Kritiker im letzten Jahr mit ihren Handlungen über das Ziel hinausgeschossen sind. Und obwohl ich aus dem Lager der Kritiker stamme, konnte ich einige Aktionen nicht nachvollziehen und fand sie der Gesamtsituation nicht zuträglich. Schade finde ich nur, dass nun einige Liquidizer-Kritiker eben nicht klüger sind und unbedingt nach dem “Auge um Auge, Zahn um Zahn”-Prinzip erneut Porzellan zerbrechen müssen. Nach den extrem harten Diskussionen des letzten Jahres, die mehrere Rück- und Austritte zur Folge hatten, hätte man es eigentlich besser wissen müssen und hätte konstruktiv an die Sache herangehen können – zumal eben auch gerade die Blockadehaltung einiger Extremkritiker besonders verurteilt wurde. Aber anscheinend haben Rachegelüste über die Vernunft gesiegt.
Ich empfinde dies als sehr schade, denn es ist der Sache nicht zuträglich – und um die sollte es uns eigentlich doch gehen.
Ich appelliere deswegen hier an alle Lager, das Experiment Liquidizer nicht gezielt scheitern zu lassen, sondern nach dem Parteitag Resumé zu ziehen, inwieweit das Tool seine Aufgabe erfüllt hat oder nicht. Ich persönlich werde auf alle Fälle den Parteitag dafür verwenden, über meine weitere Zukunft und mein Engagement in dieser Partei nachzudenken. Denn wenn wir es nicht schaffen, aus Fehlern zu lernen, wieso sollte man dann seine Energie dafür verschwenden?
Nachtrag: Um Gerüchte zu zerstreuen, dass der Liquidizer von ein paar LF-Gegnern erstellt wurde: Er wurde das erste Mal auf dem LiquidFeedback-Multiplikatorentreffen in Berlin vorgeführt und hatte dort keine Kritik einstecken müssen.